The day is June 1st, 1918. Ludwig van Beethoven’s Ninth Symphony is performed in Asia for the first time in full length in the Bando POW camp (today: Naruto City, Tokushima) by German POWs.
(Naruto Daiku)
Bis ins 19./20. Jahrhundert hinein waren kulturelle Errungenschaften des Abendlandes, technologische Innovationen, seine Zeiteinteilungen und Kalender sowie seine klassische Musiktradition in Japan wenig bekannt – Daimyo (大名 japanische [Kriegs] Fürsten) übernahmen zwar schnell die Technologie überlegener Feuerwaffen nach der Landung von Holländern und Portugiesen. Die unterschiedlichsten Bemühungen von Händlern und Missionaren auf den japanischen Inseln endeten aber schließlich mit einer rabiaten Christenverfolgung und der Abschließungspolitik (Sakoku 鎖国) des Tokugawa Shogunats im 17. Jahrhundert.
So wie andere Völker, die ihre Eigenheiten pflegen, haben auch die Japaner – neben ihrer so einzigartigen Sprache, die sich keiner anderen Familie eindeutig zuordnen lässt – kulturelle Vorlieben, besondere Instrumente, Kleidung, Musikgeschmack sowie eigene Zeitrechnungen. Zum Beispiel befinden wir uns jetzt 2021 im Jahre Reiwa 3, wie in allen offiziellen Dokumenten vermerkt, da eine jeweils neue Zeitepoche des Landes mit der Thronbesteigung eines Tenno beginnt (https://t1p.de/p1dt). Dazu nennt nun traditionelle Zeitzählung als Anfang der Nation Japans umgerechnet den 1. Februar 660 vor Beginn christlicher Zeitrechnung, an dem der erste Tenno namens Jimmu (神武天皇, Jinmu-tennō) den Thron bestiegen haben soll und an dem bis heute die Gründung Japans als Nationalfeiertag begangen wird (https://t1p.de/2stm). Seit 1873 gilt nun allerdings auch hierzulande im internationalen Austausch der gregorianische Kalender und mit diesem wurden Jahresbeginn und -abschluss sowie Feiertage neu definiert.
Nach der mehr oder weniger durch imperialen Zwang erfolgten Öffnung des Landes erstreckte sich das hiesige Interesse auch auf kulturelle Entwicklungen des Okzidents. Japaner sind zwar misstrauisch gegenüber Fremdem, aber auch sehr neugierig und kopieren dann und wann Dinge, die sie für ihr Leben als bereichernd betrachten. Einsichtsvolle Politiker, ein damals nach der straff militärischen Shogun-Führung der Edo-Zeit wieder zu mehr Macht und Einfluss kommender Tenno Meiji /明治天皇, und die junge Generation dieser Epoche strebten die Modernisierung ihres Landes an. Japan glich viele Jahrhunderte eher einem von Krisen geschüttelten Failed State mit Clan-Kriegen, dem dazu noch die während der Meiji-Reformzeit gerade zu Ende gehende Kleine Eiszeit lange zugesetzt hatte – auch Europäer hatten viele Generationen mit dieser kalten Elendszeit auf ihrem Kontinent zu kämpfen (selbst wenn einige Leute, die von westlicher CO2-Politik profitieren, Global Warming als größte Gefahr aufblasen, ganz im Gegensatz zur Realität nicht nur in Japan).
Schönheit wie Kitsch japanischer Vergangenheit werden zwar im Abendland gern anhand wunderschön Anzuschauendem wie Kirschblüte, Kimono, Kunst und Geisha vorgeführt, doch hatten solche Dinge in japanischer Vergangenheit nur für eine sehr kleine Gruppe von Menschen Bedeutung und wenig mit dem Alltag zu tun – zum Beispiel wurde die hohe Blüte japanischer Dicht- und Schreibkunst in der Heian-Epoche (平安時代 8.-12.Jhd) nur von einer höfischen Gesellschaft gepflegt, die kaum mit der Außenwelt in Berührung kam.
Eine neue Errungenschaft, die mit verstärktem Kontakt zum Westen seit der Meiji-Periode nur zu gern adoptiert wurde, war die klassische Musik großer abendländischer Komponisten – vielleicht weil japanischer Sinn für Schönheit auch im Klang hoch entwickelt ist (dies ist nach meiner Erfahrung ein Land, in welchem Synästhesie ganz besonders gut ausgebildet erscheint). Von den Schöpfungen dieser Tonkünstler war es nun speziell Beethovens Neunte Sinfonie – manche nennen sie die am besten gelungene Komposition – die Gefallen und Geschmack japanischer Ästhetik traf und ein großes und begeistertes Publikum fand. Klassische japanische Musiker finden sich seither vermehrt global in großen Konzerthäusern, ja viele Orchester weltweit würden ohne die Kunstfertigkeit japanischer Musiker viel weniger Glanz ausstrahlen – Yasunaga Toru beispielsweise, ein virtuoser Violinen-Maestro, war 26 Jahre bei den Berliner Philharmonikern, wurde gar Konzertmeister dieses Orchesters schon unter Karajan und prägte maßgeblich den musikalischen Stil so mancher Aufführung.
Beethovens Neunte Sinfonie, die hier schlicht und ehrenvoll nur kurz 第九 Daiku (Neunte) genannt wird, gehört inzwischen zum japanischen Jahresende wie der Klang ihrer Tempelglocken. Manch junge Künstler in Japan halten Beethoven gar für einen Samurai-Charakter, doch tatsächlich ist über die Rückschläge und Verzweiflungen in seinem Leben (im Wiener Beethovenhaus erfährt man Details), die in seinem musikalischen Gesamtwerk ihren Ausdruck fanden, hier nicht so viel bekannt. Alle großen Radio- und Fernsehstationen strahlen die Übertragung großer Konzertaufführungen aus und auch wir als japanisch-deutsches Paar gehören zu denjenigen, die hier in jedem Dezember an verschiedensten Orten Beethovens Neunte genießen (meine Frau Mayu hat einen klassischen Musikabschluss/Oboe von der Hokkaido University, wir besuchen hier und dort gern verschiedene Konzerte oder Opernaufführungen).
Die erste vollständig gespielte Orchesteraufführung dieser überwältigenden Sinfonie fand interessanterweise in einem Kriegsgefangenenlanger namens Bando statt, das in seiner Anlage und Freizügigkeit schon damals als einzigartig beschrieben wurde und dessen Insassen und Nachkommen sich stolz bis zuletzt als Bandoer bezeichneten. Es ist überliefert, dass POW (Prisoner of War) Hermann Hansen und das so genannte Tokushima Orchestra diese Uraufführung gestalteten, wie auch von manchen Quellen berichtet wird, dass ein Nachkomme der einstigen Edo Herrscherfamilie (Tokugawa Yorisada) einem Konzert beiwohnte, die Kenntnis über dieses gelungene Musikstück über ganz Japan verbreitete und dafür warb. Heute gehört das Gelände des einstigen Bando – es war dort quasi ein deutsches Dorf entstanden – zur Gemeinde Naruto nicht weit von der Küste Tokushimas.
Naruto ist eigentlich ein japanischer Ort wie viele an der pazifischen Küste, mit Landwirtschaft, besonderer Kultur (Tokushima ist bekannt für seine schönen Stoffkreationen aus Indigo und traditionelle Puppentheater-Aufführungen), schöner Natur, Tempeln, einem speziellen Pilgerweg und diversen Schreinen. Seine „deutsche“ Vergangenheit aber ist besonders und am Ortseingang wird hier der Besucher auch in deutscher Sprache begrüßt (Herzlich willkommen). Auf dem Gelände des ursprünglichen Lagers findet sich das „Deutsche Haus“ als Museum mit alten Ausstellungsstücken, welche vom originalen Lager stammen und verschiedenen Modellbauten, unter anderem der Nachbau einer provisorischen Konzertbühne, auf der jene damalige Uraufführung der Neunten gelang. Hier gibt’s auch lecker Bier, Kraut und Würste aus DE – wenn ich zum Beispiel meine Salat-, Sauerkraut- und Kartoffelvariationen anbiete, die geschmacklich dem nahe kommen, was ich von Omas Küche erinnere, ernte ich Begeisterung für solch exotischen Geschmack, deutsches Bier allerdings ist für japanische Geschmacksknospen anscheinend nicht so wohlig – wohl etwas zu stark, etwas zu bitter – wie ich aus den Reaktionen verschiedener Trinkpartner schlussfolgerte. Weiträumige Anlagen umringen jenes Haus und von einer Anhöhe schaut mit seinem so typisch mürrischen Gesichtsausdruck ein bronzener Beethoven in Dirigentenstatur auf den Besucher herunter – unter sich am Steinmonument eine Gedächtnisplatte in Erinnerung an jene denkwürdige Aufführung am 1. Juni 1918. Wie waren aber Musiker mit Beethoven im Gepäck dahin gelangt?
Deutsche Garnisonstruppen waren bis November 1914 in Tsingtao (Qingdao) stationiert, einem Kolonialstützpunkt und Hafen an Chinas Ostküste gegenüber Südkorea. Bis heute erfreut sich zumindest die dort gegründete deutsche Brauerei großer Beliebtheit in Asien – und nicht nur dort, denn Tsingtao-Bier wird global vermarktet. Nach Beginn des Krieges (Erster Weltkrieg) in Europa baten die Engländer Japan um Waffenhilfe in Asien; japanische Militärführer und Politiker, die selbst auch Eroberungspläne auf dem asiatischen Kontinent hatten, taten ihnen und sich diesen Gefallen und entsandten Kriegsschiffe mit ihren Truppen dorthin. Ende August 1914 begannen die Kampfhandlungen rund um den Hafen Tsingtao, am siebenten November war alles vorbei, die Besatzer ergaben sich und wurden auf verschiedene Lager verteilt, deren eines im damaligen Bando errichtet wurde. Aus diesem entwickelte sich sozusagen ein mustergültiges Kriegsgefangenenlager, das nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert wurde von lokalen japanischen Verantwortlichen, mit Kultur- und Sportanlagen, auch in Interaktion mit umliegenden Gemeinden und japanischen Behörden (im Museumsprospekt werden gar blauäugige Nachkommen der Bandoer erwähnt, was ich als Deutscher in JP nachvollziehen kann – wir sind hier quasi Exoten und die anziehende Faszination japanischer Frauen ist nach meinem Dafürhalten unwiderstehlich). Preußische Staatsbeamte hatten zur Unterstützung der Meiji-Reform in Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts mitgeholfen bei der Ausarbeitung einer modernen Verfassung. Positive Erinnerungen an diese Zeit waren offenbar in Japan noch vorhanden und halfen dabei, militärische Feindseligkeiten wieder vergessen zu machen.
Nun waren unter jenen deutschen Militärs nicht etwa zufällig klassische Musiker, die eine Uniform trugen; nein, das Offizierskorps Deutschlands rekrutierte sich bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein zu einem großen Teil aus Angehörigen des Adels und zu deren relativ umfangreicher Bildung zählte auch die Kenntnis klassischer Kompositionen, Noten- und Musiklehre sowie das Beherrschen von Musikinstrumenten. Aus den Mannschaften und Offizieren der Besatzung von Tsingtao kamen daher auch die Mitglieder eines improvisierten Orchesters und Chores, die als ihren künstlerischen Höhepunkt jene erste vollständige Aufführung Beethovens Neunter Sinfonie dort in Bando/Japan initiierten. Selbst mit zusätzlich provisorisch gebauten Instrumenten (sie besaßen keinen vollständigen Satz, um diese Sinfonie umfänglich spielen zu können), umgeschriebener Musik und Chorgesang – die Sänger waren natürlich ausschließlich Männer – wurde diese Aufführung ein Erfolg und seither entwickelte sich bis zum heutigen Tage Beethovens Neunte Sinfonie in Japan als der musikalische Höhepunkt zum Jahresende und auch wir haben schon wieder Karten für unser Konzert zum Jahresabschluss, diesmal in Yokohama.



















