Hokkaidos Winterfaszination

Mehr als 1000 Kilometer von unserem Lebensort hier am Pazifikufer in der Mitte Honshus befindet sich in Richtung Norden die nördliche Hauptinsel dieses Landes, Hokkaidō, der Kindheitsort meiner dort geborenen Gattin Mayu. So wie Sapporo, dessen Glorie hier alle anderen Orte überstrahlt, entstammen vor historischem Hintergrunde viele Ortsnamen der Sprache der Ainu (アィヌ), einem indigenen Volke von stämmigerem, stärker behaartem Wuchse, mittlerweile in stark geschwundener Zahl, da sie sich seit Generationen in die japanische Gesellschaft assimilieren und mit ihr verschmelzen. Genetisch sind Ainu eng verbunden mit den Jōmon, welche japanische Inseln vor Jahrtausenden besiedelten; ihre Kunst und Kultur werden auf Hokkaido so gepflegt wie die der slawischen Sorben in meiner alten Heimat im Spreewald.

Im Gegensatz zum knapp 3000 Kilometer südwestlich von Hokkaido entfernten Okinawa in den japanischen Subtropen herrscht hier im Norden subarktisches Klima mit sehr langen Wintern inklusive viel Schnee und starkem Frost. Man vergleiche zu dieser Realität eine Fehlprognose des „Klimaforschers“ Latif aus dem Jahre 2000, in welchem eine heutzutage abklingende Klima-Hysterie in vollem Schwunge war: „Winter mit starkem Frost und viel Schnee wie noch vor zwanzig Jahren wird es in unseren Breiten nicht mehr geben“. Zwar liegt Japan überwiegend sogar in südlicheren Breiten als Deutschland, doch seine geographische Lage bedingt im Norden sehr kalte Winde vom sibirischen Festland. Ungeachtet aller Unkenrufe von „Global Warming“-Mystikern zieht sich der Winter auf Hokkaido seit Menschengedenken fast ein halbes Jahr von Oktober bis März hin und lässt als besondere Attraktion klirrender Fröste ganze Wasserfälle zufrieren (sehr schön: Sounkyo). Zu Anfang des Jahres wird es am kältesten und die Sterblichkeitsrate steigt unter den Älteren mit fallenden Temperaturen nach oben (https://bit.ly/4ajJC8c?r=qr, nicht nur in Sapporo und übrigens auch im weltweiten Schnitt).

Zwar liegen nur südlichere Provinzen Japans in den Breiten internationaler Weinregionen von Italien bis Kalifornien, doch japanische Weintrauben gedeihen, neben ihren berühmten Melonen, interessanterweise auch hier im Norden, wo übrigens auch leckerste Kartoffeln, Milch sowie hoch geschätzte Sake-Marken herkommen. Geschick sowie Zuchterfolge hiesiger Farmer ließen sogar Hokkaidos Reis auf japanischen Qualitätsranglisten nach oben steigen. Japans Inseln weisen zwar insgesamt nicht so viel Ackerland auf, da sie geologisch aus über 70% felsigem Berg- und Vulkanland bestehen, doch Hokkaidos fruchtbare Flächen dehnen sich über größere Ebenen aus und dortige Bauern holen mit Erfahrungsschatz, Erfindungsreichtum und Gewächshäusern das Beste aus der Landwirtschaft heraus.

Eiskalte pazifische Meeresströmungen ziehen durch ihren Nährstoffreichtum rund um Hokkaido riesige Fischschwärme an. Pazifische Riesenkraken mit bis zu 9 Metern Armlänge und die japanische Riesenkrabbe, deren Beine im ausgestreckten Zustand sich über 3,5 Metern erstrecken können, stehen auf den Wunschzetteln japanischer Gourmets ganz oben. Walfleisch ist hier ein seltenes Nischenprodukt und kaum beliebt, es gilt als nicht sehr schmackhaft und wird so wie Kartoffeln gerade von älteren Japanern mit der schlechten Versorgungslage nach dem Krieg erinnert, als sie von klein auf dies täglich in den Schulen vorgesetzt bekamen. In der Meerenge Tsugaru Kaikyo jagt Ōma Maguro (nach dem Ort Ōma, eigentlich Hon-Maguro), ein Thunfisch, dessen Fleischqualität in ganz Japan sowie von vielen Feinschmeckern weltweit gepriesen wird. Zu empfehlen sei hier ein Besuch von Maguro Kaitai (マグロ解体), eine Show des Thun-Filetierens, an dessen Anschluss die Gäste leckerste frische Filets grandios marmorierten Fleisches genießen können. Mit jahrhundertealter Erfahrung und Erfindungsreichtum gelingt es Farmern, Fischern, Jägern dieser Insel ihren Bewohnern und Besuchern nicht allein genügend Nahrung, sondern eine große Festpalette kulinarischer Köstlichkeiten aus Feld, Flur und Meerestiefen bereitzustellen. Viele Japaner behaupten, Fisch-, Krabben- und Muschelreichtum seien der wichtigste Grund, dass Russland an seinen Eroberungen rund um Sachalin und die Kurilen seit 1945 festhalte. Vegetarismus, geschweige Veganismus, sind nebenbei gesagt hier oben im kalten Norden unter den Einheimischen aus verständlichen Gründen vernachlässigbar.

Winter bringt hier in vielerlei Hinsicht besondere Schönheit hervor und wer schneidige Kälte mit frostiger Ästhetik erleben will, sollte im Februar hierherkommen, wenn in Sapporo während des Eis-Festivals in weiß dominierter Attraktivität winterliche Faszination gefeiert wird. Sportliches Geschick von Snowboardern und Kunstfertigkeit der Eis- und Schneeskulpteure erscheinen in diesen Tagen sichtlich atemberaubend. Hokkaidos Onsen haben an eiskalten Wintertagen den besonderen Reiz verschiedene Annehmlichkeiten wie Massagen, Steinsauna, finnische Sauna und eine Anzahl heißer Quellwasserbecken zu genießen oder einfach in Außenbecken von schneebedecktem Fels umgeben sich nackt wie die Natur uns erschuf inmitten dampfender Wasserschwaden zu aalen, um danach heißen Sake oder Tee zu schlürfen sowie leckerste Krabben und verschiedene Sashimi zu genießen.

Apropos Attraktivität – nichts Genaues weiß man nicht, Ehe hin oder her, doch unter japanischen Männern scheint es verbreitet, schnell nach Neuem Ausschau zu halten. Sie mögen exotische Weiblichkeit unterschiedlichster Ausprägung und viele Schönheiten ihrer Idol-, Kunst- und Schauspielszene entstammen Hokkaido. Auch sind Affären bis hin zu käuflichen Liebschaften in Japan nicht nur seit Jahrhunderten üblich, sondern auch gesellschaftlich in unterschiedlichster Ausprägung anerkannt (vgl. https://bit.ly/48VqknF), selbst ihre Herrscher hatten bis 1912 neben der kaiserlichen Ehefrau offiziell Konkubinen in ihrem Haushalt. Sapporos Rotlichtviertel Suskino etablierte sich vor solchem Hintergrunde schon vor langer Zeit als beliebter Zielort männlicher Besucher und diverse Häuser bieten hier ganz offen solchen Kunden erotische Dienstleistungen verschiedenster Variation an, unabhängig des unter amerikanischem Einfluss 1956 verabschiedeten Prostitution Prevention Law. Gewöhnlich wird zwar zumindest in den allermeisten Orten Japans seitens ihrer Autoritäten versucht, diese Aspekte erotischer Wolllust der Öffentlichkeit fernzuhalten, nicht allerdings im beliebten Ausgehviertel Suskino, dem Herz des Nachtlebens von Sapporo.

Hokkaidos Insellage und natürliche Fülle brachten hier auf dem Festland manch groß gewachsene Tierart hervor, wie den bezaubernden Mandschurenkranich (たんちょうづる, 丹頂鶴), der durch seine Lebensart und Erscheinung zum Symbol für Glück, Liebe und Langlebigkeit wurde. Daneben allerdings existiert hier auch eine große Bärenspezies, welche als Higuma bezeichnet wird (ひぐま, ); verwandt mit amerikanischem Grizzly ist er der gewaltigste Landräuber auf Japans Nordinsel und auch nur dort zu finden. Hokkaidos Braunbären sind vielleicht nur doppelt so groß und schwer wie die Schwarzbären auf Honshu und Shikoku, dafür aber ungleich viel tödlicher. Suchen sollte man besser nicht nach Higuma, der über 300 Kg schwer werden und sich ausgewachsen bis über 2,5 Meter hoch aufrichten kann. Ich sah einen davon ausgestopft im Naturmuseum mit seinen gewaltigen Klauen und Zähnen, konnte auch Bärenmütter mit ihren Kindern am Ufer beobachten, als wir mit der Fähre dort in Sichtweite jetzt russischer Inseln im Norden schipperten. Durch vermeintlich naturfreundliche Jagdbeschränkungen kam es in vergangenen Jahrzehnten zu immer größeren Bärenpopulationen (heutzutage ca. 11-12000), also in letzter Konsequenz auch zu immer mehr Zusammentreffen von Bär und Mensch, die im letzten Jahr angestiegene Opferzahlen von über einem Dutzend Toten und mehr als 200 übel Verletzten zur Folge hatten.

Schon in den Mythen der Ainu taucht Higuma als Gott der Berge auf, der die menschliche Welt als Bär verwandelt besuche und dessen Seele nur durch seine rituelle Tötung befreit werden könne, um hernach in die göttliche Welt zurückzugelangen. Die Martern, unter denen ein angeketteter Bär in solchem Ritual zu Tode kommt – zartbesaitete Tierschützer sollten sich das nicht anschauen – sah ich in alten Filmaufnahmen im Hokkaido University Museum. In der Realität ist es letztlich so, dass wir Menschen, die auf Hokkaido immer tiefer in seine Jagdgründe eindringen, zu Higumas nahrhafter Beute gehören. Freilich geht es auch andersherum, denn ich aß selbst schon in einem Restaurant lecker würzigen Bäreneintopf.

Zwar hält sich gewöhnlich Higuma, durch jahrhundertelange Abschreckung misstrauisch geworden, von menschlichen Siedlungen fern, aber eben doch nicht immer. Die in Japan bislang überlieferte, schlimmste und blutigste Episode fand auf Hokkaido in Sankebetsu im Jahre 1915 statt, bei der einer dieser Bären über Tage und Nächte dortige Einwohner belagerte, an dessen Ende er zwar erlegt wurde, doch selbst vorher 7 Menschen tötete und weitere schwer verletzte (三毛別羆事件, Sankebetsu higuma jiken ). Jäger berichteten, dass die Leute dort wichtige Regeln nicht beachteten – Higumas Winterschlummer ist nie fest oder lang und wird durch äußere Stimuli oder knurrenden Hunger schnell unterbrochen. Dieser Bär hatte schon an einer der ersten getöteten Frauen seinen Appetit gestillt, was ihm anscheinend mundete. Er schleifte ihre Reste in ‚seinen‘ Wald, vergrub sie im Schnee und reagierte erzürnt, dass ihm jemand seine Beute streitig mache. Ihre Angehörigen wollten nämlich die Überreste dieser Frau zur Bestattung zurückholen, sie entfachten damit noch weiter den Zorn des Bären, der sie als ‚rechtmäßigen’ Nahrungsvorrat betrachtete und durch seine Schusswunden ohnehin schon extrem gereizt war.

Es klingt nach realem Horror und man wünscht solchen Opfern einen schnellen Tod, denn es gilt nach Augen- und Ohrenzeugen sowie der Obduktion von aufgefundenen Überresten als erwiesen, dass er bei lebendigem Leibe seiner menschlichen Beute Gesichtsfleisch, den Phallos, Schenkelfleisch und weibliche Brüste geschmacklich besonders schätzt. Zu beachten ist auch, dass man diesen geschickten Kraxlern weder durch Hochklettern noch Weglaufen entkommen kann – sie erreichen kurzzeitig Geschwindigkeiten von mehr als 50 Km/h. Ja, es wird verbreitet, dass diese Bären es vorziehen, zurückgezogen durch ihre Bergwälder zu streifen, dass sie Menschen lieber aus dem Wege gehen und Radler sowie Fußgänger sollten eine Bärenglocke mit sich führen, damit Higuma sie schon von weitem höre, sich seiner Wege trolle – doch sollte man es wirklich drauf ankommen lassen? Wer aus persönlichen Gründen die Nähe dieser Raubtiere sucht, kann trotz jahrelanger Erfahrung noch seiner Illusion so erliegen wie Grizzlyman Timothy Treadwell, der eine Organisation zu ihrem Schutze gründete – Grizzly People; „Grizzly … harmonious relationship with humankind“ – und mit seiner Begleiterin 2003 auf Alaska von einem dieser Bären unter markerschütterndem Geschrei (der Ton seiner Kamera lief mit) getötet und gefressen wurde.

Obschon also rauer Charme seiner Natur bezaubert und ansteigenden Tourismusansturm beschert, ist auf Hokkaido zu beachten – genießt diese Faszination, doch seid besonders achtungsvoll in der Wildnis, denn willkommen seid ihr dort nicht unbedingt. Sichere Schneegebiete mit Wintersportangeboten, zauberhafte Heißwasserquellen und vor allem das reiche Kulturangebot Sapporos mit seinen Universitäten, Museen und Konzerthallen untermalen den Reiz dieser besonderen Insel.

3 Kommentare zu „Hokkaidos Winterfaszination

  1. Vielen Dank für diesen interessanten Einblick in die faszinierende Welt der Natur des fernen Nippon.
    Mein Eindruck ist eigentlich immer das die Japaner, wenn ich sie denn über einen Kamm schere, kein Volk von Jammerlappen sind. Viele Ereignisse die die Natur und Umwelt bereit hält, inkl. gewaltiger Katastrophen ertragen sie stoisch und packen unverzüglich an um die Folgen zu beseitigen und auch daraus zu lernen. Im Gegensatz zu Deutschland wo jedes noch so banale Ereignis ein ewiges Lamento und Experten-Geschwätz nach sich zieht ohne etwas zu erreichen.
    Also nochmals Danke für die Mühe die Sie sich gemacht haben. Es gibt sicherlich noch viele Themen die mich interessieren. Z.B. wie halten es Japaner mit der Meinungsfreiheit in den Medien und imer persönlichen Umfeld. Bei einem Volk das ganz allgemein als verschlossen dem Fremden Gegenüber gilt ist das vermutlich schwer zu beantworten.
    Also machen Sie es gut und genießen Sie das Leben. Viele Grüße von einem „Ossi“ in MV zu einem „Ossi“ in Fernost.

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    1. Danke, sehr gerne immer wieder. Bezüglich Meinungsfreiheit sind Japaner im vertrauten Kreise viel offener als Deutsche, wie ich‘s mit meiner jap. Ehefrau erlebe. Beste Grüße nach MV, bin im Spreewald, in Lübben aufgewachsen, Bernd

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      1. Vielen Dank für die Antwort. Ich bin in Wittenberge, Prignitz aufgewachsen und lebe jetzt in der Nähe von Kavelsdorf bei Rostock. Gruß Dirk.

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