Japan – Shinto/神道 – O‘ Mikoshi お神輿 – relig. Extase

“Purification in Shinto lifts the burden from the shoulders of the individual and washes it away.”

Stuart D. B. Picken (Shinto Meditations for Revering the Earth)

„Actually there are very few people, Japanese or foreign, who understand Shinto thoroughly and are able to explain it in detail.“

William P. Woodard (Preface – Shinto, The Kami Way, Sokyo Ono)

Ein ursprünglicher Götterglaube existierte in Japan lange schon vor Beginn der ersten gesicherten Aufzeichnungen zur japanischen Geschichte ab dem 7./8. Jahrhundert (Shoku Nihongi 続日本紀 u.a.). Unter dem Dache von Shinto (神道 ein früher chinesischer Name, soviel wie „Weg der Götter“) versammelt sich Glauben an die Mächte der Natur, Erde und Himmel, und Glauben an zahlreiche Götter/Kami 神 – zu denen sich auch Ahnen gesellen können. Diese Glaubensvariationen verwenden vergleichbare Rituale, wie sie in der religionshistorischen Forschung in Bezug auf Magie und Schamanismus schon von Wissenschaftlern wie Chamberlain, Eliade, Frazer, Malinowski u.a. beschrieben worden sind. Religiöse Riten wurden seit früher Zeit von einer erblichen Elite kontrolliert, der auch die herrschenden Clans des alten Japan angehörten. Ihre erste Herausforderung kam mit buddhistischen Gesandten (verstärkt ab dem 6. Jahrhundert) aus China und Korea, welche mit ihrer Lebensphilosophie eine neue Verwaltungselite begeistern konnten, die nach und nach machtvolle Positionen in Japan übernahm und deren buddhistischer Glaube schließlich gleichberechtigt neben dem altehrwürdigen Shinto Staat, Herrschaft und Kultur des Landes dominierte. Der Shinto-Glauben und seine Rituale im Schrein/神社 (Jinja) blieben allerdings immer ein unerlässlicher Bestandteil des Landes, selbst wenn die Leute im Schrein oder bei den beliebten Umzügen der Götter mit tragbaren Schreinen (O‘ Mikoshi/お神輿) die priesterlichen Worte und Handlungen nicht mehr verstehen sollten – das ist aber für die Teilnehmer religiöser Feiern oder Gottesdienste im Rest der Welt nicht viel anders; die meisten Gläubigen verstehen kaum ritualisierte Reden und Formeln von Priestern, ob sie nun in uraltem Japanisch oder auf Altäthiopisch, Aramäisch, Koptisch, Latein oder Kirchenslawisch gesprochen sind.

Heutigentags sind solche Umzüge und Feierlichkeiten auch einfach eine gute Gelegenheit, mit Nachbarn zusammenzukommen und gemeinsam eine unterhaltsame, schöne Zeit zu haben – zumal sie bei dieser Gelegenheit durchaus etwas mehr als üblich an guten Alkoholika wie Sake zu trinken aufgefordert sind. Die Anlässe für solche Rituale liegen ursprünglich im Lobpreis von Leben, Errettung aus Not, Beschwörung von Fruchtbarkeit und Gedeihen der Gemeinschaft.

Prunkvolle oder bewusst ärmlich gehaltene Umzüge mit Heiligendarstellungen sind in katholischen Ländern bekannte und beliebte Gelegenheiten zur Feier, mitsamt ihrer dabei demonstrierten Lebensfreude oder Trauer. Der eigentliche Anlass ist hier für viele Teilnehmer weniger wichtig als die öffentliche Darstellung des Ereignisses und ihrer Helden und für eine steigende Anzahl von Menschen verschwindet der Ursprung religiöser Feiern im Nebel der Geschichte. Auch in pseudoreligiösen Gesellschaften, wie in sozialistischen und anderen Diktaturen ist traditionell der öffentliche Umzug mit den Bildern ihrer Heiligen (Marx/Engels, Lenin, Stalin, Hitler, Mao, Kim u.a.m.) zu regelmäßigen Festtagen üblich (gewesen).

Es gibt ein paar klassisch religiöse Festereignisse, zum Beispiel aus der christlich überlieferten Historie, die bis heute von den Veranstaltern und Teilnehmern aus jedweder Ökumene wie historische Tatsachen wahrgenommen und so dargestellt werden – wer schon einmal zu Ostern in Jerusalem oder zur Weihnacht in Bethlehem war, weiß wohl, wovon ich berichte. Religiöse Feste betonen doch eigentlich die Lebensfreude ihres Anlasses, unabhängig davon, ob dieser Grund ein tragisch-schmerzlicher gewesen sein soll, wie zum christlichen Osterfest oder schi’itischen Ashura/عاشوراء, ein traurig-festlicher wie zum jüdischen Pessach/פֶּסַח oder ein freud- und hoffnungsvoller wie zur christlichen Weihnacht. Das jüdische Purim/פורים  ist ein anderes, sehr gutes Beispiel für angenehme, exzessive Aspekte religiöser Feiern. An diesem Tag ist es quasi religiöse Pflicht jüdischer Männer, so viel an Alkoholika zu sich zu nehmen, dass sie nicht mehr unterscheiden können zwischen den Sprüchen: Arur Haman und Baruch Mordechai – Verfluchung des Haman, der laut dem Buch Esther allen Juden den Tod im Persischen Reich bringen wollte, und Segnung des Mordechai/מרדכי, der mithilfe seiner Tochter Esther/אֶסְתֵּר – sie gefiel in dieser Saga dem persischen König Xerxes/Hšayāŗšā so sehr, dass er sie zu seiner Königin machte – die Juden im Persischen Reich errettete. Wer also einmal taumelnde, betrunkene orthodoxe Juden an diesem Tag erleben möchte, sollte das Viertel Mea Shearim in Jerusalem aufsuchen; die säkulare Jugend feiert derweil an diesem Tag auf Kostümparties.

Eine andere Feiergelegenheit, besonders für die ashkenasischen Juden und Kabbalisten, die Anhänger des Nachman von Bratzlav (Urenkel des chassidischen Zaddik Baal Shem Tov), der Chabad-Lubawitsher und anderer, ist Lag BaOmer ל״ג בעומר (der 33. Tag zwischen Pessach&Shavuot; also etwa zwischen Ostern/Pfingsten), wo eigentlich des Bar-Kochba-Aufstandes gegen die Römer im 2. Jahrhundert und des Todes eines berühmten Rabbis und Mystikers (Shimon Ben Jochai/שמעון בן יוחאי) gedacht wird. Gefeiert wird in Meron nahe Safed, nördlich des Sees Galilee am Grabe dieses berühmten Tanna’iten (jüdische Gesetzeslehrer aus dieser Zeit, in der die Mishna, die mündliche Gesetzestradition, aufgeschrieben wurde) und es ist hauptsächlich eine Männerangelegenheit. Wer zu solcher Nacht dort ist, wo der Schein von tausenden Fackeln die Szenerie beleuchtet, in der stundenlang in schwarzer, traditioneller Kluft gekleidete Männer neben Kabbalisten und anderen Mystikern ihre Tänze und Lobpreisungen aufführen, der versteht, was eine solche religiöse Massenhypnose bewirken kann – einfach faszinierend, dagegen sind Technotanz-Events eher mickrig und der Wiener Opernball nur eine langweilige Pracht.

Bei den Japanern spielt sich auch in der Sphäre religiöser Feiern vieles zurückhaltender und üblicherweise anders als im Rest der Welt ab – dieses Land hier ist ja für die Singularität seiner Lebensäußerungen durchaus bekannt. Die japanischen Shinto-Priester oder Zen-Buddhisten sieht man kaum betrunken oder ekstatisch und auch religiös oder weltanschaulich ungebundene Leute gehen hier im Alltag eher selten aus sich heraus – beim O’Mikoshi allerdings ist es etwas anders, denn hier zeigen Beteiligte wie Zuschauer durchaus Ekstase. Grund dieser Feierlichkeit ist die Präsentation der Gegenwart Gottes im Schrein für die Öffentlichkeit, also etwas, was sonst den Priestern vorbehalten ist.

Die Mikoshi-Feste der verschiedenen Shinto-Schreine sind eigentlich unterhaltsam – zumindest für die Zuschauer, denn diejenigen, welche die schweren Tragbalken der portablen Schreine auf ihre Schultern nehmen, leisten über Stunden eine gehörige sportliche Anstrengung. In den Metropolen nutzen hin und wieder Yakuza-Gangmitglieder bei solchen Umzügen die Gelegenheit auf sich aufmerksam zu machen und anzuzeigen, dass sie in dieser Gegend zumindest präsent sind. Dabei springt einer auf die Tragbalken hinauf und reißt sich das Obergewand herunter, unter welchem seine reichhaltigen Tätowierungen sichtbar werden (im Gegensatz zur westlichen Welt gibt es hier außerhalb der Yakuza- oder Surfer-Szene keine tätowierten Menschen; sichtbare Tätowierungen werden in Japan mit Kriminalität in Verbindung gebracht und werden an öffentlichen Orten, in Läden, Firmen, Bädern oder gar Klassenräumen nicht geduldet). Meist sind diese Gangster-Darsteller auch schon gut mit Sake abgefüllt, es besteht keine wirkliche Gefahr, außer der, dass er beim Schwanken herunterfällt, und gewöhnlich werden solche Extra-Auftritte einfach hingenommen.

Die sehr schön gestalteten und reich verzierten Schreine mit göttlichem Inhalt (außer den Priestern weiß allerdings kaum jemand, was genau sich im Innern wirklich befindet) werden von ihrem Aufbewahrungsort durch die Straßen und je nach Örtlichkeit auf einen Berg oder zum Meeresufer getragen, wo dann in einer besonderen Zeremonie von den Shintopriestern den jeweiligen Göttern gehuldigt wird. Es war wohl auch hier in Oiso, einem alten Fischerort, ganz früher üblich, die Schreine mit dem Boot aufs Meer hinauszufahren, doch das wird aus Mangel an verlässlichen, traditionell hergerichteten und fahrtüchtigen Booten inzwischen nicht mehr praktiziert. Nur ein uraltes, reich verziertes Boot wird stattdessen symbolisch wie die jeweiligen Schreine durch die Gassen zum Meer und wieder zurück bewegt. Viele Leute aus der Nachbarschaft helfen gern dabei, denn es ist nicht nur körperlich anspruchsvoll, sondern auch ein sehr schönes Gemeinschaftserlebnis, abwechselnd mit zwei Dutzend anderen Leuten, einen Mikoshi /Schrein auf gewaltigen Balken zu schultern oder das Boot auf Rollenbalken vorwärtszuschieben und im rhythmischen Gleichschritt und unter Trommeln und anfeuernden Rufen seiner Wege zu bugsieren. Unter großem Beifall rucken und bewegen sich die Leute im gleichen Rhythmus, das ist wichtig, denn sonst funktioniert es nicht und der Schrein würde gefährdet. Ekstatisch rufen im Chor die Träger (und auch die Zuschauer am Rande), geleitet von einem vorauslaufenden Sprachführer, zum Anfeuern:

Yoi Sore! Dokoi Sora! – Auf geht’s! Wir packen das, wir siegen!“ oder auch „Washoi! Sora Kita! – Weiter so! Hier kommen wir!“

Zwischendurch gibt es immer mal Pausen zur Neuausrichtung, für besondere Einlagen oder einfach nur, um durch das Wiegen und Schwenken des Schreines die an diesem für solche Gelegenheit angebrachten Glocken schön deutlich erklingen zu lassen. Sehr anspruchsvoll ist zum Beispiel das Hinauftragen des O’Mikoshi vom Korai-Schrein zum Korai-Yama (Berg) zwischen Oiso und Hiratsuka, denn dieser Aufstieg ist steil und hat einige Wendungen. Er beginnt traditionell abends, die Leute bleiben dort auf dem Berg über Nacht und am nächsten Tag beginnt der Priester mit seiner Zeremonie auf der Bergkuppe.

Nach allen Anstrengungen gibt’s für alle Beteiligten ein gutes Mahl mit ausreichend Reis und Wasser, zusammen mit Tee, Bier und natürlich auch Sake. Die einzelnen Gemeinden, die sich um die jeweiligen Schrein gruppieren, versuchen dabei sich in ihrer Performance zu übertreffen, denn hier werden auch Spenden akquiriert und reichlich Gaben eingesammelt. Man sollte nicht vergessen, dass es ja das traditionelle Geschäft der Schreine ist, religiöse Dienstleistungen gegen Geld den Leuten aus ihrer Nachbarschaft anzubieten und daher ergibt es auch Sinn, mit einer feierlichen Zeremonie für alle Leute aus der Nachbarschaft regelmäßig das Göttliche zu präsentieren. Der eigentliche Hintergrund ist also einer, der bei allen Religionen weltweit vermutet werden kann – die Priester inszenieren sich als Mittelsmänner zur Dominanz der Götter; nur sie kennen die gültigen Texte und korrekten Handhabungen zur Erlangung göttlicher Gunst und sind daher allein qualifiziert zum Empfang weltlicher Entlohnung. Vor diesem Hintergrunde sagen einige (japanische) Kritiker der Gesellschaft, dass die heutigen Fälle von Korruption und diese so kulturlose Fixierung auf Geld ihren Ursprung in korrupten Institutionen von Shintoismus und Buddhismus hat. In ihrem alltäglichen Leben jedenfalls geben sich heutigentags die Japaner nicht besonders religiös, doch alte Traditionen bleiben lebendig und dienen ihrem sozialen Zusammenhalt.

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