“Even the full-size wrestlers are surprisingly graceful, like ballerinas inside stacks of tires”
Karin Muller, Japanland
Es gibt im globalen Vergleich wohl nur wenige Sportarten, die historisch andauernd so weit in ihre Landesgeschichte zurückreichen und insofern national wie religiös so aufgeladen sind wie das japanische Sumo. Moderner Mammon, der hier wie auch im Rest der Welt große Sportveranstaltungen umrahmt, lenkt dabei kaum von der Faszination des Wettstreits der Sumōtori (相撲り) ab, die mit ihrer riesenhaften Fettwülstigkeit, altertümlichem Habitus und Sprache wie unnahbare Wesen einer anderen Welt wirken. Die innere Ausstattung ihrer Arenen harmoniert im Shinto-Stil und ihre Kampfrichter tragen prachtvolle Seidengewänder, wie man sie sonst nur an Shinto-Priestern sieht. Sumo bedeutet eigentlich nur (Ring-) Kampf gegeneinander und die ersten Aufzeichnungen darüber (z.B. in der Nihongi-Chronik voll uralter Mythen, die bis ins 8. Jahrhundert kompiliert wurden) berichten über Kämpfe unter Göttern und heroischen Ahnen, die mehr als 2000 Jahre zurückreichten. Im Grunde aber war Sumo schon früher lediglich sportliche Unterhaltung für die Oberklasse – wie vergleichsweise das englische Polo.
Der Kampfplatz eines professionellen Sumo-Kampfes (Dohyō 土俵) besteht aus festgestampftem Lehm eines erhöhten Podests im Quadrat ohne seitliche Begrenzung, mit darin kreisrund (ca. 4 Meter diagonal) eingelassenen Seilballen aus geflochtenem Reisstroh, worüber ein prächtig geschmücktes Dach nach Shinto-Muster schwebt. Frauen ist aus historisch-kulturellen und religiösen Gründen das Betreten dieses Bereiches untersagt, wiewohl sie heutigentags im Amateurbereich auch aktiv mitwirken und als Zuschauerinnen seit dem 19. Jahrhundert willkommen sind – im Westen aufkommende Transgender-Problematik ist hier irrelevant.
Die immer länger werdende Zeit der Einleitung zum Kampf, das imposantere Auftreten der Streiter, ihre gründlichere Vorbereitung am Dohyo und eine immer prachtvollere Kleidung der Schiedsrichter bezeugen einen von Kampf zu Kampf immer höher steigenden Rang der Sumotori (oder auch Rikishi 力士), deren Großmeister den Titel eines Yokozuna (横綱) tragen und zumeist die Höhepunkte eines Großturniers bestreiten. Es sind diese Yokozuna, die mit prachtvoll besticktem Seidenschurz umgürtet, zum Auftakt eines solchen Tournaments als Erste in die Mitte einmarschieren, in die Hände klatschen, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erlangen, die offenen Handflächen nach oben zum Dach/Himmel präsentieren, um zu zeigen dass sie unbewaffnet sind, und auf den Lehmboden stampfen, um die bösen Geister zu vertreiben. Vor jedem einzelnen Kampf wird einiges davon wiederholt, zum Beispiel besagtes Aufstampfen, dann aber auch schon mit dem Hintergedanken, den Gegner einzuschüchtern, sich ihm gegenüber zu postieren und genau zu beobachten, wie dieser sich bewegt, welche Kampftechnik er wohl verwendet und mehr. Die Kämpfer plustern sich also vor ihrem Wettstreit mehr oder weniger wie Silberrücken gegeneinander auf; das Ausspülen des Mundes mit Wasser, Abwischen des Schweißes und Auswerfen von Salz (eigentlich zur Abwehr böser Geister) gehören als Reinigungsrituale noch dazu, bevor sie sich in gebückter Haltung zueinander postieren und das Signal mit dem Fächer des Ringrichters erwarten, um dann wie von der Sprungfeder losgeschnellt, gegeneinander anzuspringen, versuchen den Gegner durch Schläge mit der flachen Hand zu verwirren, am Lendenschurz oder am Nacken zu packen und zu Fall zu bringen. Der Kampf ist zu Ende, wenn einer der Athleten aus dem Ring gedrängt beziehungsweise gestoßen wird oder mit etwas anderem als seinen Fußsohlen den Boden berührt.
Diese Kämpfer tragen nur Lendenschurze (Mawashi 廻し) aus Seide oder Baumwolle und haben sehr muskulöse Körper, die häufig von gewaltigen, unförmigen Fettmassen umhüllt sind – wenn im Westen Fettleibigkeit aus Nachlässigkeit resultiert, so geschieht es hier mit Vorsatz, um ihr Kampfgewicht zu erhöhen. Seit Jahrzehnten steigt der BMI dieser Ringer in erschreckende Höhen an und es ist eine traurige Tatsache für alle Beteiligten, dass aufgrund ihres exzessiven Übergewichtes bei extremer sportlicher Belastung Lebensqualität und -dauer stark leiden (https://bit.ly/4ieIyEB). Ihre Vereine beschäftigen nicht nur einen ganzen Tross an Trainern, Physiotherapeuten und Ärzten, sondern auch an Köchen, Schneidern und Friseuren, da sie außer Training den halben Tag mit Essen (täglich nehmen ihre Spitzensportler mehr als 10000 Kalorien zu sich!) sowie Traditionspflege zubringen – beispielsweise tragen Sumotori auch im Alltag Kleidung und Frisuren, wie sie seit der Meiji-Periode nur noch selten gesehen werden.
Beim Sumo gibt es keine Gewichtsklassen und die meisten Ringer sind enorm kolossal, trotzdem aber gelenkig sowie geschickt. So manch kleinerer Rikishi entschied schon einen Kampf gegen einen größeren Gegner mit einer schnellen Ausweichbewegung, in deren Folge sein Gegner, von seiner eigenen Vorwärtsbewegung und der dahinterstehenden Energie fortgerissen, das Gleichgewicht verliert und zu Boden stürzt. Einmal sah ich gar, wie ein kleinerer Sumotori seinem viel massigeren Opponenten bei einer schnellen Ausweichbewegung ein Bein wegkickte, was ich für recht heimtückisch hielt, doch der Kleine bekam seinen Applaus und gewann, da er seinen Gegner dadurch zu Boden stürzen ließ. Wenn ein Kampf besonders ansehnlich, gut oder auch schlecht war, oder ein rangniederer Sumo-Ringer besiegt gar einen Yokozuna, dann werfen die nahe sitzenden Zuschauer (das sind die auf den ganz teuren Plätzen) als Zeichen von Applaus oder Empörung traditionell ihre Sitzkissen nach vorne. Gefühle zu zeigen ist in Japan eher selten und auch hier, zu einem solchen Wettstreit an diesem mit Adrenalin gesättigtem Orte, passiert dies gewöhnlich nicht. Nach dem Kampf, der häufig nur Sekunden dauert, verbeugt sich der Unterlegene kurz, bekommt als Zeichen der Anerkennung vom Sieger eine Kelle Wasser gereicht und verlässt den Platz, während der Sieger keine Zeichen des Triumphes zu erkennen gibt, die Siegprämie vom Ringrichter in einem Umschlag überreicht bekommt und ebenfalls nach Verbeugung den Platz verlässt.
Große Sumo-Tournaments finden sechsmal im Jahr statt, in den Städten Tokyo, Osaka, Nagoya und Fukuoka und sind für die Sumo-Ringer wichtig, um ihren Rang zu erhalten oder zu verbessern. Es ist auch ein sehr einträgliches Geschäft für die untereinander konkurrierenden Sumo-Ställe, denn bei solchen Turnieren wird über Werbung, Merchandising, Tickets usw. richtig viel Geld umgesetzt. Der Markt für Sumo-Ringer in Japan ist schon seit einer Weile internationalisiert, was hierzulande für ansteigenden Widerhall sorgt, da um den japanischen Geist dieses Sports gebangt wird. Ringer, die von außerhalb nach Japan kommen (denn hier lässt sich gut Geld verdienen, wenn man erfolgreich ist), lernen jedenfalls recht gut die Sprache und Sitten einheimischer Sumo-Kultur und werden nach geraumer Zeit sogar eingebürgert. 2014 geschah es das erste Mal, dass die drei wichtigsten Yokozuna nichtjapanischer Abstammung/Mongolen waren – in der Mongolei wird bekanntlich sehr alte und starke Ringertradition gepflegt. Im Zusammenhang mit diversen Skandalen um Gewalttätigkeit der Sumotori untereinander und vor dem Hintergrunde, dass die Sumo-Ringer in der Öffentlichkeit ein sehr traditionsbewusstes japanisches Leben zu führen haben, brachte dies anhaltende Diskussionen um den japanischen Nationalsport Sumo mit sich. Das diesjährige November Tournament in Fukuoka gewann übrigens der Ukrainer Danylo Yavhusishyn (Aonishiki), der als ukrainischer Champion erst mit dem Überfall Russlands 2022 als Kriegsflüchtling nach Japan kam (http://bit.ly/4ihutGr).
Schlussendlich ist das Leben in einem Sumostall für Neueinsteiger nicht einfach, es gibt kaum Privatleben und es herrscht eine strenge Hierarchie – die Neuen kümmern sich um Reinigung, Einkäufe, Essen und die Pflege der Kleidung der Älteren. Ja, je erfolgreicher einer bei seinem Aufstieg wird, desto höher dotierte Kämpfe, Erfolgsprämien und Freiheiten bekommt er – allerdings bleibt seine Zeit des Genusses begrenzt, denn als Resultat all der gesundheitlichen Einschränkungen, die sein Ernährungsstil sowie aufreibender Sport ihm abverlangt, hat ein Sumo-Ringer eine relativ kurze Lebensdauer, die weit unterhalb des japanischen Durchschnitts liegt.





