Ungarn erlebe ich weit weniger scheu als Japaner und diejenigen, mit denen ich seit Jahren verkehre, wuchsen mir durch innige Lebensfreude und aufrichtige Offenheit ans Herz (außerdem strahlen für meine Augen die Frauen hier wie dort ganz besonderen Zauber aus). Ihr Land verbindet mit Japan ein gewisses Alleinstellungsmerkmal – Sprache, Kultur und Herkunft sind sehr verschieden von denen ihrer Nachbarn. Während aber zum Beispiel das Finnische dem Ungarischen verwandt ist, beherrschen Japaner ein von allen anderen Sprachgruppen isoliertes Idiom, dessen Kultur so gepflegt wird und dessen Studium so aufwendig ist, dass die meisten Japaner – im Gegensatz zu Ungarn, wo man ganz gut mit Englisch zurecht kommt – Fremdsprachen kaum nutzen. In der Syntax kommen sich beide Sprachen im Verständnis für die Aussagefähigkeit ihrer Sätze recht nahe, da zuerst das Wichtige genannt wird und der Rest mit weniger Bedeutung danach kommt (die Verben haben Suffix und Tempus, womit alles Wesentliche im Zusammenhang mit dem Sprecher ausgedrückt wird) …
Tegnap vidam ittam.
Kino tanoshii yapparatta.
… wörtlich: Gestern fröhlich betrunken; im Deutschen würde man wohl sagen: Voller Freude habe ich mich gestern betrunken.
Auch über ihre Herkunft haben beide Völker vor allem mythische Erzählungen und in großen Teilen wird lediglich gemutmaßt, wo sie denn konkret herkämen. Japaner sind bei ihren Eroberungszügen in Asien und Ozeanien geblieben, bevor sie im Pazifikkrieg endgültig besiegt wurden und ihr Herrschaftsgespinst über Asien sowie sämtliche militärische Ambitionen ganz aufgaben (während der Meiji-Reform unter tatkräftiger deutscher Unterstützung hieß es noch Reiches Land – Starke Armee https://t1p.de/uim4). Doch wie es die Spuren der Jōmon- und Yayoi-Kultur, der Ainu und der buddhistischen und christlichen Missionierungen in Japan zeigen, gab es immer wieder auch Wanderungsbewegungen in Richtung Japan. Wie die Magyaren sind auch die heutigen Nihonjin nicht diejenigen, deren Vorfahren ihr Land ursprünglich in Besitz genommen hatten (das trifft allerdings auf nahezu alle anderen Völker ebenfalls zu).
Die Ungarn galten einst in Europa als gefürchtete Eindringlinge, die auf Raubzügen ihre Bögen vom Pferd aus so schnell und erbarmungslos zu nutzen verstanden, wie schon die Hunnen davor und die erst unter Otto I. mit einer Entscheidungsschlacht auf dem Lechfeld hatten gestoppt werden können. In Richtung Westen und Europa versuchten also nicht nur die Hunnen, muslimische oder mongolische Eroberer ihr Glück. Asiatische Zuwanderung und Eroberungszüge werden seit Anbeginn der Geschichtsschreibung überliefert und auch umgekehrt waren Plünderer und Eroberer Richtung Osten unterwegs, wie wir zum Beispiel aus den Heldengeschichten um das Goldene Vlies, von den Alexanderzügen und der Ausdehnung des Römischen Imperiums bis nach Mesopotamia wissen. Aristoteles hatte einst behauptet: Die asiatischen Völker haben einen hellen und kunstbegabten dabei aber furchtsamen Geist und deshalb befinden sie sich in ständiger Dienstbarkeit und Sklaverei. (Politik 7.7) Die Hellenen gaben vor, nur βάρβαρ zu verstehen, wenn sie Fremde reden hörten, die des Griechischen nicht mächtig waren, und nannten sie daher Barbaren (Stammler). Offenbar schätzten sie von Osten kommende Völker wie aus dem Vielvölkerstaat Persien, die Turkstämme oder Slawen nicht sehr hoch ein und eine spätere volksetymologische Deutung vermischte boshaft gar die Bezeichnung für Sklaven mit dem mittellateinischen Wort für die Slawen.
Magyarország/Ungarn liegt auf dem Gebiete des antiken Pannonia, einer römischen Provinzlandschaft, die zu früheren Zeiten auch schon von Hunnen, aus den Weiten Asiens kommend, besiedelt worden war (Die Hunnen ist ein Sammelbegriff für verschiedene Steppenvölker sino-mongolischer Herkunft). Neben den unterschiedlichsten keltischen, slawischen und germanischen Stämmen sind außer den Hunnen auch Skythen und Awaren als Besiedler des Karpatenbeckens benannt worden und haben dort ihre Spuren hinterlassen. Ein Abglanz davon (Gold der Awaren, Schätze der Skythen) lässt sich neben den römischen Funden in der archäologischen Ausstellung im hervorragenden Ungarischen Nationalmuseum erahnen. Die Magyaren/Ungarn (zuerst aus slawischen und byzantinischen Quellen bekannt), die nach ihnen kamen, pflegen gern ihre Historie der Herkunft aus der Ferne, aus dem asiatischen Osten, wo einst mythische Vorfahren wie Magyar ihren Volksstamm nach Westen in die fruchtbaren Ebenen unterhalb der Karpaten geführt hätten. Ihr berühmter Großfürst Árpád (seiner pompösen Reiterstatue kann man an der Spitze anderer Heroen auf dem Heldenplatz in Budapest [Hősök tere] die Ehre erweisen) habe ihre Nation dort begründet und dessen Urenkel István I. nahm um das Jahr 1000 infolge der Bemühungen von Missionaren wie St. Gellért, dem späteren Märtyrer und Stadtpatron Budapests, das Christentum für ganz Ungarn an, heiratete Gisela von Bayern aus der Ottonischen Dynastie und errichtete einen Feudalstaat mit Kirchenordnung nach europäischem Muster. Hierauf gründet der Ursprungsstolz der Magyaren und ihr katholischer Glauben. Gewaltige Bronzestatuen auf dem Heldenplatz in Budapest zeigen ihre Verbildlichung einer kriegerischen Vergangenheit, aber auch ihren Willen und Widerspenstigkeit gegen fremden Glauben und Ideologien (hoch über der Donau ist eine Statue St. Gellerts an der Stelle, von der aus er laut Tradition in einem mit Nägeln gespickten Fasse von den Ungarn hinunter zur Donau in seinen Tod gestürzt worden sein soll).
Auch wenn sie zwischen slawischen Völkern leben, sind Ungarn also alles andere – neben den Finnen und Esten, die sich oben im Norden ansiedelten, sind sie in Sprache und Tradition im zentralen Europa mehr oder weniger isoliert und entwickelten daher ein besonderes Gefühl für Zusammenhalt und Pflege ihrer Kultur. Nach Europa hinein kamen immer wieder wandernde Völker aus dem Osten, nach Japan kamen sie aus dem Westen, von Osten aber nie, dafür ist der Pazifik viel zu groß. Die Herkunft der Japaner ist also im Westen zu suchen, so wie die Herkunft der Ungarn wohl im Osten zu finden ist. Die Byzantiner ordneten sie einfacher Weise den zahlreichen Turkvölkern zu und in Ungarn selbst wird es sehr unterschiedlich beschrieben. Die Geschichten um Árpád helfen ebenso der Konstituierung ihrer Volksgeschichte wie die Mythen der genealogischen Verbindung der japanischen Götter mit dem Tenno zur Herrschaftslegitimierung dienen. In der Neuzeit gibt es immer wieder Versuche, die sprachliche, anthropologische und kulturelle Verbindung der Ungarn mit der Vergangenheit aus jeweils politisch motivierten Gründen zu definieren, Tiborc Fazekas wies in einem wissenschaftlichen Vortrag darauf hin (Die Herkunft der Ungarn – Tradition und Mythologie der orientalischen Abstammung): … sprachliche Verwandtschaft mit dem Sumerischen, anthropologische mit den Japanern/Koreanern, kulturelle mit den Uiguren …
Der wichtigste und schönste Ort inmitten von Ungarn war und ist seit langer Zeit Budapest, eine Metropole, die mit allen wichtigen Landesteilen über Bahn- und Fernstrecken verbunden ist. Diese schöne, traditionsreiche Stadt teilt sich beiderseits der Donau auf in Pest mit seinen Theatern, Museen, den Opernhäusern und dem prunkvollen Parlamentsgebäude, das die Ungarn bewusst wie ein aufmüpfiges Machtsymbol gegenüber dem Habsburger Schlossareal errichteten. Erbaut wurde dieses, in Anlehnung an Westminster Palace, alles bis dato in den Schatten stellende Gebäude ab Ende des 19. Jahrhunderts. Der Balkon der Abgeordneten mit seinen traditionell eingearbeiteten Zigarrenablagen für die Parlamentspausen ist genau in Sichtweite über der Donau und muss den aristokratischen Feinden von Demokratie und Liberalismus auf dem Schlossberg immer ein schmerzlicher Dorn im Auge gewesen sein. Auf dieser anderen Seite der Donau hin zu den Budaer Bergen finden sich traditionelle Bäder über Heißwasserquellen (sehr gesund schwefelhaltig; nicht so toll wie die japanischen Onsen https://t1p.de/m774, aber in Europa herausragend, mein Favorit ist Rudas Fürdö 🙂 ), schöne Villenviertel und prachtvolle Burg- und Schlossbauten, errichtet über Generationen und von architektonischer Schönheit, wie man sie in dieser Form nur noch flussaufwärts in Wien finden kann. Und überall in der Stadt gibt es tolle Lebensmittelmärkte mit der leckersten Salami, hervorragendem Speiseangebot und köstlichem Wein.
Budapest war immer eine Stätte des Widerstands, wenn anderswo zum Nachteil Ungarns Beschlüsse gefasst wurden – früher unter anderem gegen die Habsburger, jetzt zum Beispiel gegen die E.U.-Politik. Etwas anders als in Deutschland wird hier Geschichte in einigen Aspekten nicht so leicht verdrängt – die von den türkischen Janitscharenhäschern geraubten Buben sind ebenso wenig vergessen wie die durch den Vertrag von Trianon geschaffenen Fakten zu Landnahme und Aufteilung Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie (in vielen Häusern hängt eine Karte mit dem Ungarn davor und zeigt an, welch große Gebiete sich Jugoslawien, Rumänien und die Tschechoslowakei einheimsten, wo jetzt ungarische Minderheiten leben). Wenn es hart auf hart kommt, dann erinnern sich Ungarn wieder ihrer Helden, wie schon in der Zeit des Widerstands gegen Osmanen oder Habsburger und wie es uns die neuere ungarische Geschichte seit 1956 wieder zeigt (auch wenn es dazumal ungarische Lenin-Statuen gab). Sicherlich haben ungarische Politiker in der Vergangenheit nicht immer gute Wege eingeschlagen, so wenig wie die japanischen und viele andere Politiker weltweit. Ich meine aber, es ist wichtig, gerade in einem politisch so zerstrittenen Europa sich zu besinnen, wo die Interessen der Menschen liegen und es den gewählten Volksvertretern vor Ort zu überlassen für das Wohl der Menschen zu handeln, für die sie angetreten sind, Sorge zu tragen.
PS: Jeder freiheitsliebende Mensch in Deutschland erinnert mit Freude diesen einmaligen Akt der Öffnung ihres ungarischen Grenzzaunes gen Westen im September 1989, mit dem der Weg in die Freiheit für viele Ostdeutsche erst begann. Die Ungarn bewiesen hier nicht zum erstenmal ein aufgeklärtes Selbstbewusstsein, um entgegen einem Diktat das Richtige zu tun – dessen sollten sich E.U.-Politiker bewusst sein …











